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Mein tibetisches Neujahr: Der Geschmack in der Erinnerung (II)

27-02-2025 11:08
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Mittags am ersten Tag des neuen Jahres laden wir Nachbarn und Verwandte nach Hause ein. Neben der Zubereitung von Reis und Gemüse kocht die Gastfamilie in Viehzuchtgebieten auch Yak- und Schafköpfe für die Gäste. Erwachsene essen gerne Fleisch und junge Menschen alle Arten von Gemüse. Am Nachmittag essen wir Gänsefingerkraut gemischt mit Yakbutter und Fleischbrötchen.

Nachdem wir diese gegessen haben, beginnen die Kinder, große Holzschalen für Erwachsene vorzubereiten, um Hochlandgerstenwein zu trinken. Der Rand der Schalen wird mit Yakbutter zu kunstvollen Glückssymbolen geformt, dann werden sie mit Hochlandgerstenwein gefüllt, der reihum getrunken wird. Bevor man trinkt, taucht man den Ringfinger in ein wenig Wein, kreuzt ihn mit dem Daumen und hüpft ihn in die Luft. Dieselbe Bewegung wird dreimal wiederholt, um die Götter anzubeten. Vor dem Trinken singt man den Anwesenden ein Trinklied, um seine Segenswünsche auszudrücken. Da die Schale relativ groß ist, kann man entweder, wenn man nicht trinkfest ist, nur einen kleinen Schluck nehmen. Wer dagegen gern viel trinkt, kann auch alles trinken. Danach wird die Stimmung locker. Einige Leute singen laut, einige versammeln sich im Hof und tanzen Gorchom, andere knabbern Sonnenblumenkerne und unterhalten sich. Die Frauen sprechen über das Alltägliche, die Männer über Nachrichten und aktuelle Ereignisse, und es herrscht Frieden.

Am dritten Tag des neuen Jahres stehen wir früh auf, um die Berggötter anzubeten. Man muss am Tag vor der Abreise Opfermilch, Hochlandgerstenwein, klaren Tee sowie Zypressenzweige, Weihrauch, Longda und Hada vorbereiten.

Nach dem Frühstück ziehen sich meine älteren Brüder und mein Vater ordentlich an und machen sich auf den Weg. Am Fuß des Bergs bringen sie Tribute dar, streuen Longda, lesen Sutren vor und bitten die Berggötter, ihre Familien im neuen Jahr mit Glück, Gesundheit und ohne Krankheiten oder Unglück zu segnen. Die Feierlichkeiten des tibetischen Neujahrs dauern bis zum 15. Tag, sodass jeder eine lange Pause einlegen, Verwandte besuchen, sich mit der Familie treffen und die Eltern begleiten kann.

Heute verändert sich auch das tibetische Neujahr mit der Entwicklung der Zeit. Zum Beispiel flechten Frauen heutzutage nach dem Haarewaschen am 29. seltener kunstvolle Frisuren. Stattdessen stecken sie die Haare einfach hoch. Wenn ich sie frage, warum sie nicht wie früher schöne Frisuren flechten, antworten sie mir, dass es zu zeitaufwendig und zudem schwer und unpraktisch sei. Früher standen wir am ersten Tag des neuen Jahres früh auf und holten Wasser vom Fluss, aber jetzt hat jede Familie Leitungswasser, sodass dieser Brauch allmählich in Vergessenheit gerät. Mit der Vertiefung der Interaktion, des Austausches und der Integration der verschiedenen ethnischen Gruppen gibt es nun auch in Haushalten, die traditionell keine Neujahrssegenssprüche aufgehängt hatten, diesen Brauch, und die Erwachsenen geben auch den Kindern Neujahrsgeld.

Obwohl sie sich mit der Entwicklung der Zeit kontinuierlich bereichert, weiterentwickelt und verändert haben, werden meiner Meinung nach viele traditionelle Kernbräuche des tibetischen Neujahrs immer noch weitergegeben und fortgesetzt, wie zum Beispiel das Essen von „Gutu“, das Darbringen von „Chema“ und die Anbetung von Berggöttern. Das heutige tibetische Neujahr ist reichhaltiger und frischer als das, was ich als Kind in Erinnerung habe. Schließlich ändern sich die Zeiten. Jede Generation kann die traditionelle Kultur schätzen und schützen und gleichzeitig eine einzigartigere und vielfältigere Art und Weise haben, Feste zu feiern, die nicht statisch sein muss und auch nicht statisch sein sollte. Daher hoffe ich, dass es Vergangenheit und Zukunft, Tradition und Moderne verbinden und zur unvergesslichsten Erinnerung in den Köpfen jedes Kindes werden kann. So wie bei mir, der sich jedes Jahr auf das tibetische Neujahr freut.

(Redakteur: Daniel Yang)