In seinem Atelier im Kultur- und Kreativpark Tsechokling in Lhasa beugte sich der 65-jährige Angsang (Angwang Sangbu) über seine Schülerin Feng Jia, um ihr bei der Überarbeitung des Gemäldes „Prinzessin Wencheng“ zu helfen. Auf der Leinwand verschmelzen traditionelle Mineralpigmente der Thangka-Malerei mit modernen künstlerischen Ausdrucksformen – ein Spiegelbild seiner fünfzigjährigen Karriere, in der er stets zwischen Tradition und Moderne navigiert und mit dem Pinsel ein kulturelles Spektrum gewebt hat.
1960 in einer einfachen Familie in der Altstadt von Lhasa geboren, zeigte Angsang bereits in der Grundschule außergewöhnliches künstlerisches Talent. Mit acht Jahren gewann er den ersten Preis eines Schulmalwettbewerbs, seine Werke erschienen mehrfach in der„Tibet Daily“, und sein Kunstlehrer verlieh ihm den Spitznamen „kleiner Maler“.
1972, im Alter von zwölf Jahren, kam die Wende: Unter 500 Bewerbern wurde Angsang als einer von zwölf Stipendiaten für die Tanzausbildung im Kunstensemble des Autonomen Gebiets Xizang ausgewählt und an die Kunstfakultät der Zentralen Universität für Nationalitäten (heute Minzu-Universität) in Peking geschickt. Die vier Jahre in Peking waren ein „Doppelleben“: Morgens um fünf dehnte er sich, bis die Knie bluteten und nachts skizzierte er heimlich seine schlafenden Mitbewohner im Schein des Flurlichts. In seinem Tagebuch notierte er: „Tanz ist der Körper, der die Welt vermisst, Malen ist die Seele, die in der Landschaft verweilt.“
1979 kehrte er als bester Absolvent nach Xizang zurück und wurde Chefdesigner für Bühnenkostüme im Tibetischen Kunstensemble. Der Bühnenbildner Tsering Dorje wurde sein Mentor und führte ihn systematisch in Zeichnung und Farbenlehre ein. 1982 fungierteAngsang als Klassensprecherimersten Malkurs von Pei Zhuangxin von der Kunsthochschule Sichuan in Lhasa. Tagsüber studierte er westliche Perspektive beim Zeichnen des Potala-Palastes und nachts erforschte er die fließenden Linien der Thangka-Malerei – ein ständiger Dialog zwischen Tradition und Moderne.
1983 bot sich eine neue Chance: Als Illustrator für das Projekt „Tibetische Tanzsammlung“ wurde er nach Suzhou geschickt. Diese Zeit bestärkte ihn in seiner künstlerischen Berufung. 1985 begann er ein Studium an der Kunsthochschule der Universität Xizang als Schüler des Thangka-Meisters DampaRabten, wo er die Feinheit jahrtausendealter Mineralpigmente und den Geist traditioneller Kunst erlernte.
1985 gründete Angsang mit seinem Bruder Ngamqên und anderen die „Malschule des Süßen Teehauses“ und veranstaltete spontane Ausstellungen in alten Teehäusern Lhasas. „Kunst gehört nicht in den Elfenbeinturm, sondern in den Alltag der Menschen“, lautete sein Motto. Nach drei Ausstellungen wurden Hunderte Werke verkauft, und eine künstlerische Bewegung war geboren.
2005 eröffnete Angsang die „Gendün-Chöphel-Galerie für Gegenwartskunst“ in der Barkhor-Straße. 2011 präsentierte er tibetische Gegenwartskunst auf dem Songzhuang-Kunstfestival in Peking. Als Kurator stellte er in Shanghai eine Ausstellung mit Werken von DampaRabten und dessen Schülern zusammen – sämtliche Bilder wurden verkauft. Sein Gemälde „Tibetischer Mensch“ wurde im Yak-Museum Xizang dauerhaft ausgestellt, ein Zeichen für die Anerkennung seines öffentlichen künstlerischen Beitrags.
2020, mit 60 Jahren, begann Angsang, beim Meister Jing Tingyao traditionelle chinesische Malerei zu lernen. 2021 schuf er „Yarlung-Tsangpo-Schlucht“, eine Synthese aus tibetischer Landschaft und Tuschmalerei.
In seinem neuesten Werk „Zwölf Tierkreiszeichen“verbinden sich tibetische Tier-Symbole mit cyberpunkhaften Zahnrädern, während die Thangka-Technik „Drei Weiß-Methoden“ metallischen Glanz erzeugt. „Manche sagen, ich zerstöre Tradition – dabei webe ich ihre Fäden neu“, erklärte er. „Tradition ist kein erstarrtes Butterblumenbild, sondern ein fließender Fluss, der moderne Strömungen aufnimmt, ohne seine Quelle zu vergessen.“
Von Teehäusern zu internationalen Galerien, von der Bühne zur Leinwand: Seit fünf Jahrzehnten lässt Angsang traditionelle Kunst im modernen Kontext neu erblühen. Im Abendlicht, das sein graues Haar golden färbt, hält er den Pinsel, mit dem er seit einem halben Jahrhundert an der Schnittstelle von Vergangenheit und Zukunft malt – und weiterhin das kulturelle Spektrum Xizangs lebendig hält.
(Redakteur:Krystal Zhang)